Heinrich Barth

Portrait

Schwerpunkte seines Denkens

Die beiden Hauptbegriffe in Barths Denken sind „Erscheinung“ und „Existenz“.Vor allem vom Erscheinungsbegriff gilt, dass er bei Barth einen viel weiteren Sinn gewinnt als gemeinhin üblich.Sowohl „Erscheinung“ wie „Existenz“ stehen bei Barth nicht für zwei besondere Themen, denen sich Philosophie zuwenden kann, sondern sind Richtpunkte einer Philosophie, die ihrem Anspruch nach den ganzen thematischen Bereich traditionellen philosophischen Denkens abzudecken bestrebt ist. Auf dem Spiel steht mit beiden Begriffen so etwas wie Wirklichkeit, wobei „Erscheinung“, als kosmische wie menschliche Wirklichkeit umfassend, der „Existenz“ in gewisser Weise vorgeordnet ist. (Die Ausweitung des Erscheinungsbegriffs, die „Erscheinung“ beinahe mit „Wirklichkeit“ zusammenfallen lässt, darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass Barth nur dasjenige für wirklich gelten lasse, was auch tatsächlich erscheint. Er unterscheidet vielmehr aktuelle und potentielle Erscheinung; die letztere umfasst auch dasjenige, was bei anderen Autoren als unsichtbar, sich der Erscheinung entziehend gedacht wird. Über die Grösse und Bedeutung dieses Bereiches ist damit noch keine Aussage gemacht. Barth ist jedoch zur Erkenntnis gekommen, dass es im Rahmen seines Denkzusammenhanges sinnvoller ist, wenn das nicht aktuell Erscheinende selbst als in gewissem Sinne der Erscheinung zugehörig aufgefasst wird.)

Um Wirklichkeit bemüht sich alles philosophische Denken. Indem es jedoch auf allgemeine Aussagen abzielt, gerät es unvermeidlich in eine gewisse Gegenstellung zum Konkreten, Besonderen, Individuellen, also genau zu demjenigen, was man gemeinhin als „Wirklichkeit“ zu bezeichnen pflegt. Dem philosophischen Streben nach Wirklichkeit haftet etwas Paradoxes an: Das Wirkliche, wonach es strebt, verwandelt sich in dem Moment, in dem das Denken es einzuholen glaubt, in ein Unwirkliches, nur Gedachtes. In wohl geschichtlich einmaliger Weise wird sich die Philosophie bei Barth dieser ihrer eigenen Grenze bewusst; gleichzeitig führt diese Selbstbesinnung bei ihm statt zur modischen Preisgabe aller höheren Ansprüche gerade erst zu einem gehaltvollen Begriff von Philosophie.

Das Wirklichkeitsproblem ist für Barth selbst Existenzproblem; es kann nur in der Existenz selbst je und je einer Lösung zugeführt werden. Eine noch so gute Theorie vermag es nicht zu lösen, höchstens aufzulösen, was nichts anderes heisst, als ihm auszuweichen. Sofern die philosophische Tradition in der Regel meinte, das Wirklichkeitsproblem mit ihrer philosophischen Lehrbildung bewältigen zu können, ist sie nach Barth fast durchwegs im Zeichen solchen Ausweichens zu sehen. Es ist ein grosser Unterschied, ob das Erfassen von Wirklichkeit den letzten Orientierungspunkt des Denkens bildet oder die Wirklichkeit selber. Im ersten Fall wird Wirklichkeit als fester Bestand vorausgesetzt, dem sich das Denken erfassend zuwenden kann; damit wird der Wirklichkeit aber ihr fundamentaler Fragecharakter genommen. Sie ist selbst Frage, Problem. Barths Denken ist somit gekennzeichnet durch einen ausgeprägt kritischen Impuls gegenüber der metaphysischen Tradition. Die monumentale Studie zur Geschichte des Erscheinungsproblems (die zweibändige Philosophie der Erscheinung; s. „Werke“) kann nicht umhin, dieser Tradition eine Problemvergessenheit grossen Stils zu bescheinigen, die an Heideggers „Seinsvergessenheit“ denken lässt. Und Barths Existenzphilosophie findet ihre Vorläufer nicht zuletzt an den Rändern der philosophischen Überlieferung: bei Augustin, Pascal, Kierkegaard, auch bei Hamann und Jacobi.

Doch damit ist nur die eine Seite von Barths Verhältnis zur Philosophiegeschichte angesprochen. Die grosse rationalistische Tradition wird nicht zuletzt darin fragwürdig, dass sie ihren eigenen Logos verabsolutiert. So universal sich das System eines Leibniz oder eines Hegel immer darstellen mag, so handelt es sich dabei doch stets nur um eine Gestalt des philosophischen Logos, der selbst eben gerade keine Universalität für sich beanspruchen kann. Ein philosophisches System bietet einen Erkenntniszusammenhang dar. Erkenntnis aber gibt es auch ausserhalb der Philosophie; es gibt sie in der Wissenschaft, in der Lebenswelt, im Bereich des Praktischen und schliesslich im Glauben. Philosophie hat kein Monopol auf Erkenntnis; sie kann nicht das Mass bestimmen, an dem sich bemessen lässt, was Erkenntnis ist und was nicht. Diese Kritik an der rationalistischen Philosophie aber tritt mit einem Mal in eine anderes Licht, wenn man darauf achtet, was genau von ihr getroffen wird: die Verabsolutierung eines bestimmten Logos oder, umgekehrt, die Eingrenzung und Festlegung des Logos als solchen. Nun kann deutlich werden: Die Tendenz des Rationalismus, den Logos für schlechthin universal zu halten, ist ihm keineswegs vorzuwerfen; im Gegenteil: vorzuwerfen ist ihm, dass er dessen wahre Universalität gerade verkennt. Einer Philosophie, der sich diese Universalität des Logos erschlossen hat, ist es um nichts mehr zu tun, als den Begriff des Logos nach allen Seiten hin offen zu halten. Und die Bemühung um Universalität im Rahmen der Philosophie ist dann gerechtfertigt, wenn gerade die Auflösung dieses oft so grossartigen Scheines von Universalität zum Anlass wird, die wahre Universalität des Logos umso deutlicher hervortreten zu lassen.

Mit dieser Gedankenwendung schafft sich Barth die Möglichkeit, durchaus auch affirmativ an die rationalistische Tradition anzuknüpfen. Gleichzeitig gewinnt er einen starken und gehaltvollen Begriff philosophischen Denkens zurück. Diesem kommt die Aufgabe zu, den Erkenntnisbegriff offen zu halten und zu verhindern, dass eine bestimmte Gestalt von Vernunft oder Erkenntnis zur schlechthin massgebenden Instanz gemacht wird. Das Mass, die Norm, das Gesetz aller einzelnen Erkenntnis und jeder besonderen Erkenntnisform kann nur in der Erkenntnis selbst, in der Erkenntnis als solcher, in ihrer Idee liegen. Das besagt der Gedanke der „Erkenntnisautonomie“, wie Barth ihn vom Marburger Neukantianismus übernimmt. Die Tendenz, eine bestimmte Ausprägung von Vernunft absolut zu setzen, ist jedoch nicht nur Sache der rationalistischen Philosophie; sie durchzieht auch die lebensweltlichen Zusammenhänge. Die Gedankenbewegung der Philosophie bleibt diesem Bereich gegenüber somit nicht ausserhalb, nur mit ihrer Selbstkritik befasst. Sie verfügt über einen besonderen Logos, in dem der Logos als solcher, welcher ihr nicht zu Gebote steht, selbstreflexiv wird. Philosophie behält den Respekt vor der ausserphilosophischen Erkenntnis, ohne diese sich selbst überlassen zu müssen; sie hat hier vielmehr ihr Wort, ein gewichtiges Wort, mitzureden.

Ich bin ausgegangen von Barths Impetus, sich dem Problem der Wirklichkeit in einer historisch seltenen Aufgeschlossenheit zu stellen, indem er „Erscheinung“ und „Existenz“ zu den Fluchtpunkten seines Denkens macht. Es hat sich gezeigt, dass Barth gerade auch in der (kritischen) Anknüpfung an die grosse philosophische Tradition, die dieses Problem meist vernachlässigt hat, eine Möglichkeit findet, seinem Grundanliegen zu entsprechen. Nicht durch Selbstverleugnung der philosophischen Vernunft, sondern durch gesteigerte Selbstreflexion befähigt sich Philosophie zu jener Problemoffenheit, um die es Barth geht. Das antimetaphysische Anliegen, für das „Erscheinung“ und „Existenz“ stehen, kommt in einer kritischen und affirmativen Besinnung auf die metaphysische Tradition erst eigentlich zu sich.

Im Lichte des solchermassen umrissenen Verhältnisses zur Philosophiegeschichte ist nun auch ein weiterer Schwerpunkt des barthschen Denkens zu sehen: sein transzendentalphilosophischer Ansatz. Einerseits integriert er in diesen die Transzendenz- und Gottesfrage der metaphysischen Tradition; andererseits dynamisiert er ihn durch den Einbau eines radikal metaphysikkritischen Moments, das unter anderem auch zur Preisgabe zentraler Lehrstücke Kants zwingt, wo doch Kant für viele noch heute (nicht aber für den Neukantianer Barth!) als Garant einer modernen und kritischen Transzendentalphilosophie gilt.

Barths „Transzendentales“ öffnet sich einerseits der Transzendenz metaphysischer Provenienz und radikalisiert andererseits den kritischen Impuls. An der heute unter den Apologeten einer transzendentalen Besinnung selbstverständlichen Prämisse, dass im modernen Begriff des Transzendentalen die metaphysische Transzendenz überwun-den und erledigt sei (nach dem Schema: transzendent=jenseits der Erfahrung, transzendental=diesseits der Erfahrung), lässt sich aus der Sicht Barths ein selbst gerade zutiefst unkritisches Moment nachweisen.

Der letzte hier anzuführende Schwerpunkt in Barths Denken betrifft das Verhältnis von Vernunft und Glauben, Philosophie und Theologie. Für den Bruder von Karl Barth war die Bestimmung dieses Verhältnisses und die glaubhafte Vertretung des eigenständigen Standpunkts einer Philosophie, die gleichzeitig ihre christliche Inspiration nicht verleugnet, gleichsam das tägliche Brot. In unzähligen Schriften und Vorträgen hat er sich, zumeist weder von theologischer noch philosophischer Seite wirklich verstanden, mit diesem Problem auseinandergesetzt. Es ist aber unverkennbar, dass damit im Rahmen der Darstellung von Barths Denken kein wirklich neuer Schwerpunkt zur Sprache kommt. Er steht vielmehr in engster Verbindung mit dem zuvor Entwickelten und wäre von diesem her in seiner Problematik und seiner Fruchtbarkeit zu bedenken.